Endlich sind die ersten Impfstoffe zulassungsreif, da kommt auch schon die nächste Frage: Wie kann eine Vielzahl von Impfwilligen geimpft werden? Das RKI erarbeitet zur Zeit einen Kriterienkatalog zur Reihenfolge, in der Bevölkerungsgruppen zur Impfung eingeladen werden. Die Städte und Gemeinden bauen parallel dazu Impfzentren auf, in denen möglichst viele Menschen möglichst schnell geimpft werden können.
So weit, so gut. In der WDR Lokalzeit vom 07.12. (Video verfügbar bis 14.12.) wurde das Impfzentrum in Herne gezeigt. Dort sollendemnächst täglich 1000 Menschen geimpft werden. Für das Aufklärungsgespräch mit Anamnese (Vorerkrankungen, frühere Impfreaktionen usw.) sind 3 Minuten von der kassenärztlichen Vereinigung (KV) geplant.
Vermutlich ist ein Durchschnitt von 3 Minuten ein guter Wert, schließlich macht die KV solche Planungen häufiger. Es wird bestimmt auch Menschen geben, die weniger Aufklärungsbedarf haben, z. B. weil sie keine Vorerkrankungen haben oder sich schon vorab sehr intensiv mit der Impfung auseinander gesetzt haben. Und dann wird es Menschen geben, die einfach mehr Fragen haben oder eine Vielzahl von Vorerkrankungen, bei denen die Aufklärung länger als 3 Minuten dauert. Wurde die Streuung im Impf-Prozess berücksichtigt?
Es ist sinnvoll, keinen konstanten Wert für die Aufklärung anzunehmen, sondern eine Werteverteilung. Eine Möglichkeit ist eine Dreiecksverteilung mit einem Mindestwert von 30 Sekunden, einem Maximalwert von 6 Minuten bzw. 360 Sekunden und einem Durchschnittswert bzw. Modalwert von 180 Sekunden wie in der Abbildung „Dreieckverteilung : Dauer Aufklärungsgespräch“. Auch für andere Schritte im Prozess Impfen ist eine Werteverteilung realistischer als ein konstanter Wert.
Rahmenbedingungen & Annahmen
Für jede Simulation müssen Rahmenbedingungen vorgegeben werden, z. B.:
- 1000 Menschen sollen pro Tag geimpft werden.
- Die Impfung soll insgesamt maximal 60 Minuten dauern.
- Das Impfzentrum ist 10 Stunden pro Tag geöffnet, letzter Einlass 60 Minuten vor Schließung.
- In 9 Stunden sollen 1000 Menschen eingelassen werden, d. h. pro Stunde 1000/9 = 111 Menschen oder alle 32,4 Sekunden 1 Mensch. Für die Simulation wird der Wert auf alle 30 Sekunden gerundet.
- Die Dauer für den Weg der Impfwilligen von einer Station zur nächsten sind 20 Sekunden.
- Es können beliebig viele Arbeitsplätze pro Prozess-Schritt eingesetzt werden.
Die Anzahl Arbeitsplätze pro Prozess-Schritt wird nach dem Durchschnittswert bzw. Modalwert festgelegt. Beim Aufklärungsgespräch ist der Modalwert 180 Sekunden, d. h. es werden für 1 Mensch alle 30 Sekunden mindestens 180/30 = 6 Arbeitsplätze benötigt.
Prozess-Schritte, Aufgaben und Zeiten
- Checkin
Aufgabe: Abfrage „Fühlen Sie sich krank?“, Temperatur-Messung, Kontrolle Termin-Einladung
Werteverteilung: Dreieckverteilung, Min=20, Max=60, Modal=40 Sekunden
Anzahl Arbeitsplätze: 40/30 = 1,33, d. h. 2 Arbeitsplätze - Formalien
Aufgabe: Prüfung der Unterlagen (z. B. Impfpass, Krankenkassenkarte), Ausgabe Formulare für Impfung (z. B. Einwilligungserklärung, Ablauf zweite Impfung), Erklärung der Formulare
Werteverteilung: Dreieckverteilung, Min=40, Max=240, Modal=70 Sekunden
Anzahl Arbeitsplätze: 70/30 = 2,33, d. h. 3 Arbeitsplätze - Formulare ausfüllen
Aufgabe: Impfwillige füllen Formulare aus
Werteverteilung: Dreieckverteilung, Min=60, Max=360, Modal=120 Sekunden
Anzahl Arbeitsplätze: 0, ggf. Unterstützung für Sprach- oder Lese-/Schreibschwierigkeiten (hier nicht berücksichtigt) - Aufklärungsgespräch
Aufgabe: Aufklärungsgespräch mit Prüfung ausgefüllter Formulare, Anamnese, Vorerkrankungen, früheren Impfreaktionen, Risiken der Impfung usw.
Werteverteilung: Dreieckverteilung, Min=30, Max=360, Modal=180 Sekunden
Anzahl Arbeitsplätze: 180/30 = 6, d. h. 6 Arbeitsplätze - Impfung
Aufgabe: Durchführung der Impfung, Dokumentation, Hinweis auf Wartezeit
Werteverteilung: Dreieckverteilung, Min=40, Max=80, Modal=60 Sekunden
Anzahl Arbeitsplätze: 60/30 = 2, d. h. 2 Arbeitsplätze - Warten
Aufgabe: Wartezeit nach der Impfung
Werteverteilung: Dreieckverteilung, Min=28, Max=36, Modal=30 Minuten
Anzahl Arbeitsplätze: 0
Anzahl Sitzplätze: 2 Menschen pro Minute, 60 Menschen in 30 Minuten, d. h. mindestens 80 Sitzplätze - Checkout
Aufgabe: Handlungshinweise bei Impfreaktionen, Terminvergabe zweite Impfung
Werteverteilung: Dreieckverteilung, Min=10, Max=120, Modal=40 Sekunden
Anzahl Arbeitsplätze: 40/30 = 1,33, d. h. 2 Arbeitsplätze
Alle Werte sind Beispielwerte. Die Simulationen sind mit iGrafx PROCESS, Version 17.71.1276-Origins erstellt worden. Die Simulationsdateien und eine Zusammenfassung der Ergebnisse finden Sie auf Github.
Ergebnisse der Simulation
In der ersten Simulation werden die Vorgaben wie oben beschrieben umgesetzt. Die Abbildung zeigt den Ablauf im Impfzentrum. Blaue Kästchen zeigen aktive Prozess-Schritte an, rote Kästchen überlastete. Oben links an jedem Prozess-Schritt ist angegeben, wie viele Menschen aktuell in diesem Prozess-Schritt sind bzw. auf die Bearbeitung warten.
Der Prozess-Schritt „2. Formalien“ ist fast durchgehend rot eingefärbt, d. h. hier bilden sich lange Schlangen. Auch die Schritte „1. Checkin“, „5. Impfung“ und „7. Checkout“ sind oft übervoll. Durch die vielen Wartezeiten sind nach 10 Stunden (also einem Arbeitstag) nur 577 statt geplanten 1000 Menschen geimpft. Im Schnitt hat jeder Mensch 1:47 vermeidbare Wartezeit erlebt und war insgesamt mehr als 2,5 Stunden im Impfzentrum.
Für die nächsten Simulationen wird die Anzahl Arbeitsplätze in den ersten zwei Schritten erhöht. Dann sinken zwar die Wartezeiten in den ersten beiden Schritten, allerdings entstehen in anderen Schritten Wartezeiten, weil mehr Menschen in die weiteren Prozess-Schritte hereinkommen. (Sie warten einfach nicht mehr so lange bei „1. Checkin“ und „2. Formalien“.)
Die Anzahl Geimpfte steigt auf 652 und die Gesamtzeit im Prozess sinkt auf gut 2 Stunden. Leider ist beides immer noch weit entfernt von 1000 Geimpften und einer maximalen Verweildauer von 60 Minuten. Da sich in der zweiten Simulation die Warteschlangen vor den Schritten „4. Aufklärungsgespräch“ und „5. Impfung“ bilden, werden mehr Arbeitsplätze in diesen beiden Schritten eingerichtet.
Die angestrebten 1000 Geimpften werden auch in der dritten Simulation mit 680 weit unterschritten und die mittlere Durchlaufzeit liegt immer noch über 2 Stunden. Davon sind fast 80 Minuten vermeidbare Wartezeit.
Die Warteschlange wandert in der dritten Simulation weiter im Prozess in den letzten Schritt „7. Checkout“. Dort wartet jeder Mensch fast 60 Minuten, bis er die benötigten Informationen erhält. Das würde in der Realität dazu führen, dass Menschen den letzten Schritt überspringen. Damit steigt das Risiko erheblich, dass die Termine für die notwendige zweite Impfung nicht oder nicht zur richtigen Zeit vereinbart wird.
In der vierten Simulation werden mehr Arbeitsplätze in „1. Checkin“ und vor allem „7. Checkout“ eingerichtet. Damit werden die vorgegebenen Ziele fast erreicht.
Durch die Einstellungen in der vierten Simulation werden mit 976 Geimpften und einer mittleren Gesamtzeit von 66 Minuten die Ziele 1000 Geimpfte in maximal 60 Minuten fast erreicht. Mehr Geimpfte sind in diesem Setup möglich, indem z. B. die Anzahl Termine pro Stunde etwas erhöht werden und statt 1 Mensch alle 30 Sekunden bereits nach 28 Sekunden in den Prozess kommt.
Die Abbildung zeigt die Simulation mit der vierten Einstellung. Es tauchen im Vergleich zur ersten Simulation deutlich weniger rote Kästen auf, auch wenn es nach wie vor Wartezeiten gibt. Sie sind für jeden Impfwilligen mit insgesamt 22 Minuten erheblich niedriger als in der ersten Simulation mit 107 Minuten vermeidbarer Wartezeit.
In der nachfolgenden Tabelle ist aufgeführt, wie viele Arbeitsplätze pro Prozess-Schritt eingeplant wurden. Die Werteverteilung pro Prozess-Schritt ist in jeder Simulation gleich geblieben.
So werden Warteschlangen und Überlastung vermieden!
Es ist immer notwendig, die Streuung in Prozess-Schritten zu berücksichtigen, damit ein Prozess gut genug läuft. Dabei ist es egal, ob es ein industrieller Fertigungs-Prozess ist oder ein Impf-Prozess, Mit Berücksichtigung der Streuung werden Ziele erreicht, Warteschlangen und Überlastungen vermieden – und das können Sie auch!
Natürlich unterstütze ich Sie auch gerne bei der Prozess-Simulation. Vereinbaren Sie einfach einen Erste-Hilfe-Termin (kostenfrei für Neukund:innen).